Kolumne

Wir mögen Bücher und Papier, deswegen gibt es unser Programm auch als Heft. Und in jedem Heft gibt es ein Editorial der Literaturhausleiterin Kathrin Dittmer. Das wollen wir auch online niemandem vorenthalten!

Editorial September / Oktober

Reversible Resonanzen

Manche Leute glauben nicht, dass Kunst etwas bewirkt. Dabei zeigt Literatur sogar oft unmittelbare Wirkung. Es muss ja nicht gleich zum Massenselbstmord kommen wie bei Goethes Werther und von ausgiebiger Tolkien-Lektüre wird man auch nicht gleich zum Hobbit. Aber von zu viel Hölderlin kann man schon mal depressiv werden und nach der Lektüre von Jean Rhys‘ Sargassomeer für mindestens ein Dreivierteljahr seinem Mann nicht mehr trauen. Natürlich gibts auch positive Wirkungen: Ein Gedicht kann einen Tag retten, ein guter Roman mindestens ein Problem lösen und im Zweifel immerhin eine prima Pflanzenpresse abgeben.

Neulich jedoch beschlich mich der Verdacht, das Lesen an sich könnte gute oder schlechte Schwingungen verursachen. Nach mehrstündiger geistiger Zermürbung im IC von Hamburg nach Kopenhagen, schien es mir zwar nicht wahrscheinlich aber doch möglich, dass es überhaupt Schwingungen gibt und ein Buch wie Heinz Strunks Der Goldene Handschuh unheimliche Wirkungen zeitigen könnte. Eben war mir aufgefallen, dass eine junge Frau, ein paar Plätze weiter, Strunks Buch las, als ein Paar neben mich plumpste, das morgens bereits vollbetankt war, und die kommenden drei Stunden, ein Drama zum Thema Abhängigkeit in all ihren Facetten aufführte, das alle einschlägigen Autor*innen von Strindberg bis Reza in den Schatten stellte. Konnte das Zufall sein?

Ihre Ausdauer war enorm, ihr Wortschatz nur zum Teil. Ich mied jeden Blickkontakt, denn man wird sonst als potentiell aktiver Teil solcher Inszenierungen wahrgenommen und einbezogen, und starrte unwahrscheinlich konzentriert in meine Zeitung und anschließend auf alles, was man sich vors Gesicht halten kann, ohne völlig gestört zu wirken. Neben mir flossen Alk, Schweiß und Tränen, unterbrochen von eruptiven gegenseitigen Liebesbezeugungen und dem Singen der immerselben Liedzeile. Freie Plätze gab es nicht.

Leider stiegen wir erst in Fridericia um, und meine Hoffnung war, dass sich die zwei erschöpfen würden. Ha ha. Nach anderthalb Stunden wünschte ich mir, sie möchten spontan von schwerer Laryngitis befallen werden. Nach zwei Stunden war ich soweit, Taubheit als Segen zu betrachten, ab Padborg bestärkte ich die Frau scheinheilig bei Zwischenhalten auszusteigen, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. „Spinnst Du?“, zischte mein Begleiter, „Sie verpasst garantiert die Abfahrt“. „Eben.“ presst ich hervor, und blickte ihm fest in die Augen.

Ich will ja nichts Böses sagen, aber am Ende der Fahrt wankte ich wie ein Seekranker aus dem Zug, ganz wie nach einer besonders ambitionierten Lehrstück-Inszenierung im Mitmachtheater. Vielleicht auch wie Kracauer aus einer Mario-Lanza-Retrospektive. Egal: Den Gedanken der Bücher-Aura habe ich bald verworfen. Er war nur das Symptom einer posttheatralischen Belastungsstörung. Das Leben schreibt sowieso die fiesesten Geschichten.


dit

Im Buchhandel erhältlich:

Hasenrein eingemiezelt
Kolumnen von Kathrin Dittmer.
Für alle, die wissen wollen, warum das Gehirn die eigentliche Problemzone ist, was Weltanschauungen und Küchenmaschinen gemeinsam haben und ob Molly der Hund tatsächlich Flöte spielen konnte.
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