Kolumne

Wir mögen Bücher und Papier, deswegen gibt es unser Programm auch als Heft. Und in jedem Heft gibt es ein Editorial der Literaturhausleiterin Kathrin Dittmer. Das wollen wir auch online niemandem vorenthalten!

Editorial April

Feldforschung im Innenraum

Wenn man von Natur aus zu den Stubenhockern zählt, sollte einem das Zuhausebleiben nichts ausmachen. Im Gegenteil, man fühlt sich weniger gehetzt. Und man ernährt sich womöglich sogar gesünder, macht eine richtige Mittagspause mit Rote-Bete-Eintopf, trinkt weniger Kaffee und mehr Minztee, snackt täglich Walnüsse fürs Hirn, macht am offenen Fenster Gymnastik und so weiter.

Allerdings fördert das Verhockte auch das Eigenbrötlertum und die Konzentrationsschwäche, was am Begegnungsmangel liegt. Auch ist die Verlockung groß, noch im Nachtgewand schon mal mit einem gemütlichen Pott Kaffee in der Hand den Computer anzuschmeißen, die Mails zu checken und auch gleich zu beantworten, wo man schon mal dabei ist, sowie alle die anzurufen, die man am besten noch vor 9 Uhr erreicht. Und schwupps: Schon schafft man es bis zur ersten „ViKo“ um 11 Uhr nur mit Mühe, zumindest vom Scheitel bis zur Tischkante annehmbar gewandet vorm Laptop zu sitzen.

Das Arbeiten zu Hause führt auch zu grässlichen Wortschöpfungen. Die Anwesenheitsabstimmung bei den Facetime-Teamsitzungen mit meinen Kolleginnen beende ich oft mit der Ansage „Morgen und Mittwoch Home-Office, ansonsten bis auf Freitag Office-Office“. Ja, so red ich jetzt. Man kann faktisch gar nicht so viele Walnüsse essen, wie man bräuchte, um dagegen anzukommen.

Leider muss man sagen, dass zudem selbst bei gewieften Leserinnen wie mir auch die Lesefähigkeit leidet. Neulich las ich von der Marsexpedition „perserverance“ und fürchtete, dass man wieder ein armes Tier in den Weltraum gejagt hätte, das dann wie die berühmte Laika elend verenden würde, und zwar diesmal eine Perserkatze. Nun ja, ein Wort wie „perseverance“ ist zugegeben für die meisten keine geläufige Vokabel. Insofern muss ich mich nicht schämen, aber mich ließ das Bild von einer Katze im Raumanzug irgendwie nicht mehr los. Und vom Elend der Tiere durch die Grausamkeit der Menschen kommt man schnell auf die allgemeine Grausamkeit des Menschen, und das muss einem den Tag versauen, aber wiederum dankbar stimmen, dass man alleine ist. So kann ein langer Arbeitstag schon mal hingehen, ohne dass man auch nur vor die Wohnungstür tritt.

Das führt wiederum zu Bewegungsmangel, der bei mir zusätzlich dadurch gefördert wird, dass ein Ersatzteil für mein Radio seit Weihnachten nicht an Land kommt und ich alle Nachrichten über meinen Laptop lese und schaue, wobei ich genauso still sitze wie beim Zeitunglesen, nämlich sogar sehr viel unbewegter als beim Fernsehen. Mein Fernseher ist aber auch kaputt. Er wurde durch einen Tierversuch zerstört. Tierheimkatze Melanie ist die geborene Forscherin. Leider legt sie zur Ankündigung ihrer Forschungsvorhaben keinen besonderen Anzug an, sondern ist stets im von der Natur mitgelieferten Outfit unterwegs, und zwar raketenschnell. Bei einem Beschleunigungsexperiment im Orbit des Wohnzimmers hat der Fernseher die Nutzung als Homebase nicht überstanden. Er stürzte ab. Jetzt weiß ich, dass LCD für liquid crystal display steht. Da läuft doch tatsächlich was aus. Mit einem Röhrengerät wäre das nicht passiert. Die neumodischen Dinger sind einfach zu leicht und zu dünn.

Ich kaufe erst mal keinen neuen Fernseher. Erstens möchte ich keine Pakete mehr annehmen müssen und zweitens nehme ich hin, auch mal Objekt der Tierforschung zu sein. Es könnte ja sein, dass die Zerstörung des Fernsehers Teil eines Leseförderungsexperimentes ist. Das sollte ich zumindest so sehen. Ich muss nämlich bis nächste Woche noch 140 Stipendienanträge à jeweils 10 Seiten lesen. Wenn sicherlich auch nicht alle Texte lesenswert sein werden, kann ich das Durcharbeiten einer solchen Menge frischer Texte immerhin als Feldforschung betrachten. Perseverance heißt übrigens Ausdauer.

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Im Buchhandel erhältlich:

Hasenrein eingemiezelt
Kolumnen von Kathrin Dittmer.
Für alle, die wissen wollen, warum das Gehirn die eigentliche Problemzone ist, was Weltanschauungen und Küchenmaschinen gemeinsam haben und ob Molly der Hund tatsächlich Flöte spielen konnte.
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