Kolumne

Wir mögen Bücher und Papier, deswegen gibt es unser Programm auch als Heft. Und in jedem Heft gibt es ein Editorial der Literaturhausleiterin Kathrin Dittmer. Das wollen wir auch online niemandem vorenthalten!

Editorial Februar / März

Raubgrabung

Katalog meiner Sentimantalitäten 17

Neulich konnte ich nicht schlafen. Jemand hatte unser Familienalbum gemetzelt. Fotos waren dilettantisch herausgelöst und schief wieder eingeklebt worden, andere fehlten, dafür waren scheußliche Farbkopien von vorhandenen Bildern eingeheftet, die nun wegen der zweiten Belichtung fast vergangen waren. Ich war fassungslos.

Hatte jemand versucht, meine Urgroßeltern nach Thüringen oder Kanada zu verschicken, nur weil Berta und Hermann da auch zufällig Urgroßeltern waren? Am Ende das ganze Album in die Post gegeben? Hatten die Empfänger alles durch den Kopierer gejagt und nach Gutdünken ergänzt? Und das Seltsamste war: Keiner wusste wer. Und wann das passiert war.

Allzu oft schaut man so ein Album auch nicht an. Es hat eher etwas Feiertägliches, die Vergangenheit zu betrachten. Es gibt in meiner Familie auch kaum etwas, das so alt ist. Das meiste ist neu. Nur eine verbeulte Suppenkelle ist noch da, ein paar Dokumente, Urgroßmutters Gesangbuch, das als Familienbibel diente, ihre Blechbrosche und die Fotos in dem Album, das jemand angelegt hat, der alle Abgebildeten noch kannte. Wo sie gelebt haben, kennt sie keiner mehr.

Aber es heißt ja nicht umsonst: Hundert Jahre vor seiner Geburt und hundert Jahre nach seinem Tod hat ein Mensch für keinen Lebenden mehr Bedeutung. Außer für mich. Deswegen habe ich Geschichte studiert. Schon als Kind hat mich ganz verrückt gemacht, dass die Vergangenheit nicht zu fassen war und so mies dokumentiert. Ich tat so, als sei es ganz normal, Geschichte zu studieren. In Wahrheit war ich schon etwas schräg drauf. Aber was solls: Niemand ist eine Insel.

Auch das mit dem Album machte mich ganz fuchsig. Ich zeigte das Fiasko meiner gestaltungskundigen Schwester, und die sagte: „Hm.“ Prompt schämte ich mich ein wenig, weil ich mich so unautorisiert aufregte. Schließlich ist es ja gar nicht mein Album. Sollte ich vielleicht wie Pippi Langstrumpfs Großmutter auch täglich einen gestrichenen Esslöffel Fuchsgift nehmen? Einfach um ruhiger zu werden? Ich übte mich also in Gelassenheit, dann in Verdrängung. Ich durfte gar nicht daran denken, dann wurde mir ganz elend.

Im Urlaub setzte ich mich auf einen bronzezeitlichen Grabhügel (auf einen, wo das erlaubt ist!), um mich in Gelassenheit zu üben. Ich dachte mich zurück in die Zeit, als der Hügel angelegt wurde, und das Land noch keine vom Wasser umgebene Insel war. Von diesen Menschen weiß man einfach gar nichts. Na und? Wir alle haben Vorfahren bis in die vorgeschichtliche Zeit, von denen wir nichts wissen. Außer, dass sie so waren wie wir, dachte ich. Und regte mich wieder auf.

Aber: Thank God for the Job! Als wir eine Archäologin zu Gast hatten, konnte ich nicht an mich halten und erzählte von meinem Album-Albtraum. Sie riss die Augen auf und kreischte fast: „Was? Mein Gott, das ist ‘ne Quelle! Ich hätte die ganz Nacht nicht schlafen können!“ Schwester im Geist! Aber meine Familie wird auch helfen: Wir setzen uns dran und machen es neu und schön. Ans Ende der Geschichte glauben vielleicht einige Philosophen, Historiker nie.

dit

Im Buchhandel erhältlich:

Hasenrein eingemiezelt
Kolumnen von Kathrin Dittmer.
Für alle, die wissen wollen, warum das Gehirn die eigentliche Problemzone ist, was Weltanschauungen und Küchenmaschinen gemeinsam haben und ob Molly der Hund tatsächlich Flöte spielen konnte.
» zuKlampen